Ist eine Querschnittlähmung heilbar?
Die Wiederherstellung zerstörten Rückenmarksgewebes ist bislang weder durch chirurgische noch durch medikamentöse oder andere Maßnahmen möglich.
Stand der Forschung und Ausblick
Der größte Wunsch jedes Betroffenen und jedes Behandlers ist verständlicherweise die Wiederherstellung der geschädigten Rückenmarksstrukturen. Gibt es Gründe zu der Annahme, dass dieses Ziel in überschaubarer Zeit erreicht werden wird? In den letzten Jahrzehnten gab es zahlreiche wissenschaftliche Projekte, die sich dieser Fragestellung aus unterschiedlichen Perspektiven näherten.
Chirurgische Ansätze
Chirurgische Maßnahmen verfolgen in erster Linie das Ziel, die Wirbelsäule zu stabilisieren. Dies ermöglicht eine schnelle Mobilisation des Patienten und reduziert die Gefahr lebensbedrohlicher Komplikationen. Die chirurgische Entlastung von Druck auf das Rückenmark kann durch Entfernung von Knochenfragmenten und Blutergüssen erfolgen und dazu beitragen, dass nicht völlig zerstörtes Nervengewebe wieder seine Funktion aufnimmt. Im Falle einer Einblutung in den Rückenmarkskanal besteht ein enger Zusammenhang zwischen Zeitpunkt der operativen Entlastung und dem Ausmaß des Funktionsgewinnes. Bei Verletzungen der Wirbelsäule mit Rückenmarksschädigung gibt es nur für die Halswirbelsäule gesicherte Erkenntnisse, dass eine frühzeitige Operation zu besseren Behandlungsergebnissen führt. Was die Transplantation von Nervengewebe und Stammzellen aller Art betrifft, gibt es bisher keinen Nachweis über Therapieerfolge.
Medikamentöse Ansätze
Experimente mit dem Ziel einer medikamentösen Reparatur des Rückenmarkes basieren auf folgenden Ansätzen:
- Protektion: Verhinderung von zusätzlicher Gewebeschädigung nach der Verletzung.
- Restauration: Wiederherstellung verletzter rückenmarkeigener Leitstrukturen.
- Regeneration: Generierung von Nervenwachstum.
Rehabilitative Ansätze
Ein bereits gut erforschter Ansatz sind die verschiedenen Arten des Lokomotionstrainings. Hierbei werden auf Rückenmarksebene Nervenzellennetzwerke durch wiederholte Ausführung von Bewegungsaufgaben stimuliert und deren Verbindungen so umprogrammiert (genannt „neuronale Plastizität“), dass bestimmte Abläufe des Stehens, Gehens sowie der Rumpfstabilität, aber auch vegetative Funktionen optimiert werden. Ein Forschungsansatz, der sich den genannten Gruppen nicht zuordnen lässt, besteht darin, das Rückenmark mittels technischer Assistenzsysteme zu überbrücken, indem die im Gehirn entwickelten Bewegungsbefehle vor Ort abgeleitet werden, um computergestützt Muskeln elektrisch zu aktivieren, die dann die Bewegung tatsächlich ausführen.
Fazit
Der Ersatz von zerstörtem Rückenmarksgewebe ist bislang weder durch chirurgische noch durch medikamentöse oder andere Maßnahmen möglich. In Tierversuchen zuweilen erzielte positive Ergebnisse lassen sich nicht 1:1 auf Menschen übertragen. Die neuronale Plastizität von reifem menschlichem Nervengewebe ist eine vollständig andere als z. B. die von Mäusen.
Neben der Herausforderung, das verletzte Rückenmarksareal zu überbrücken stellt sich die Frage wie es gelingen kann, zusammengehörige Nerven wieder zu verbinden. Ob dies jemals gelingen wird, ist unsicher und zeitlich nicht einzuschätzen. Auch ist keineswegs gewiss, dass unter wissenschaftlichen Gesichtspunkten erreichbare Erfolge für die Betroffenen alltagsrelevante Verbesserungen mit sich bringen. Es muss also intensiv weitergeforscht werden. In der Zwischenzeit sollten die vorhandenen medizinischen, rehabilitativen und technischen Möglichkeiten ausgeschöpft werden, um ein Höchstmaß an Selbstständigkeit und Selbstbestimmtheit zu erzielen.