SCHNELLE
HILFE

SCHNELLE HILFE

„Barrierefreiheit ist eine ganz große Gerechtigkeitsfrage“

Seit der Bundestagswahl im Herbst 2021 sitzt Stephanie Aeffner als Abgeordnete für Bündnis 90/Die Grünen im Deutschen Bundestag. Ihr Leben hat sich von Baden-Württemberg nach Berlin verlagert. Dort nutzt sie Erfahrung und Ausdauer, um wesentlichen Zielen mit jedem Kompromiss ein Stück näher zu kommen.

Es ist Freitagnachmittag. Stephanie Aeffner könnte jetzt mit der Bahn ins Wochenende fahren, um sich zuhause bei Heidelberg von einer vollen Sitzungswoche als Mitglied des Bundestags (MdB) zu erholen. Leider dauerte die letzte Sitzung an diesem Tag wieder einmal länger als geplant. Die Kolleginnen und Kollegen nehmen dann einfach einen Zug später. Aber Stephanie Aeffner hat als Rollstuhlfahrerin mit dem geplanten ICE auch ihre Mobilitätshilfe verpasst. „Ich muss eine Ausstieghilfe spätestens am Vorabend vor Antritt der Fahrt beantragen. Das haut oft nicht hin. Wenn Sitzungen länger dauern, dann ist der Zug weg und die Hilfe auch.“

Rollstuhlfahrer bundesweit können ein Lied davon singen. Deshalb steht die Barrierefreiheit im öffentlichen Verkehr ziemlich weit oben auf der To-do-Liste der Grünen-Politikerin. Sie sitzt als neue Bundestagsabgeordnete auch im Ausschuss für Arbeit und Soziales und hat Stellvertretungen in den Ausschüssen für Gesundheit, Bildung und Recht. Derzeit laufen die Vorbereitungen für die jeweiligen Arbeitsgruppen. Es ist eine geschäftige Zeit, aber auch der berühmte Zauber des Neuanfangs.

Politik im Kinderzimmer

Stephanie Aeffner wurde 1976 in Donaueschingen geboren und ist in der Nähe von Frankfurt am Main aufgewachsen. Als Kind wurde bei ihr ein Gendefekt diagnostiziert. Die körperliche Belastbarkeit ließ nach, mit 13 Jahren konnte sie keinen Sport mehr machen, mit 22 wurde sie Rollstuhlfahrerin.

Die politische Ausrichtung zuhause sei sozialdemokratisch gewesen. „Es war ein sehr politisches Elternhaus, in dem viel diskutiert wurde. Wir sind auch zusammen zu Demos spaziert.“ Familie Aeffner demonstrierte für den Frieden, später gegen Fremdenfeindlichkeit. „Als Grundschülerin habe ich einen Brief an Helmut Kohl geschrieben wegen der Pershing Raketen.“ Der Kalte Krieg und die Aufrüstung nahmen in der gesellschaftlichen Debatte damals ungefähr so viel Raum ein wie heute die Corona-Pandemie, und die Menschen fühlten sich ähnlich bedroht. „Ein Mitarbeiter schrieb zurück, dass diesen Brief doch wohl eher meine Eltern geschrieben hätten. Damit war Helmut Kohl bei mir unten durch.“

Nach der Schule überlegte Stephanie Aeffner, ob sie in die Politik gehen oder lieber Ärztin werden sollte. „Mir erschien die Politik damals als eher brotlose Kunst.“ Also schrieb sie sich zum Medizinstudium ein. „Was Handfestes.“ Aber auch viel Auswendiglernen und ein hoher Prüfungsdruck. Nach einem Wechsel des Studienfachs machte sie ihren Abschluss dann in Sozialer Arbeit und arbeitete zunächst im Gesundheitswesen.

Neue Standards setzen

Der Koalitionsvertrag zwischen SPD, FDP und den Grünen zeugt aus ihrer Sicht von einem neuen Geist: „Es wird der Wille spürbar, Krisen nicht länger nur zu verwalten, sondern gesellschaftliche Konflikte von Vornherein anzugehen und sich der Diskussion zu stellen. Wir haben sehr konkrete Vorhaben.“ Dazu zählt ein brisantes Ziel, das schon lange von Menschen mit Behinderungen und ihren Vertretungen gefordert wird: die Verpflichtung der Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit. Stephanie Aeffner ist ein bisschen stolz: „Barrierefreiheit ist eine ganz große Gerechtigkeitsfrage. Dass wir jetzt wirklich die Privatwirtschaft zur Barrierefreiheit verpflichten, ist für mich ein riesengroßer Schritt. Das wird konkret etwas verändern, in der baulichen Umwelt, aber auch bei Produkten und Dienstleistungen.“

Entscheidend wird sein, dass die Nicht-Einhaltung dieser Vorgaben auch belangt werden kann, das ist Stephanie Aeffner klar. Denn schon heute sind etwa Arztpraxen zur Barrierefreiheit verpflichtet, dennoch ist nur etwa jede dritte Praxis für Menschen mit Behinderungen überhaupt geeignet. „Der Nicht-Abbau von Barrieren beziehungsweise das Nicht-Treffen von Vorkehrungen soll in Zukunft ein Diskriminierungs­tatbestand sein, der dann auch Sanktionen nach sich zieht.“

Standhaft bleiben

Sich wie Wolfgang Schäuble in behindertenpolitischen Fragen bedeckt zu halten, ist ihre Sache nicht. Da habe eben jeder seine eigene Geschichte. „Ich finde nicht, dass man Behindertenpolitik machen muss, bloß weil man behindert ist – gar nicht. Aber andererseits finde ich es wichtig, dass Menschen Themen authentisch vertreten und wissen, von welchen Lebenswirklichkeiten sie sprechen.“ Sie selbst kenne sicherlich auch nicht alle Probleme von Menschen mit Behinderungen, aber der Bezug sei natürlich da, auch durch ihren beruflichen Werdegang.

Stephanie Aeffner hat unter anderem in der Beratung von Menschen mit den unterschiedlichsten Behinderungen gearbeitet und war von 2016 bis 2021 Behinderten­beauftragte in Baden-Württemberg. „Das war eine gute Schule, um zu lernen, wie man zum Beispiel Mehrheiten für ein Anliegen gewinnen kann.“ Sie setzt darauf, Sachfragen mit Fakten zu untermauern, Lösungswege anschaulich aufzuzeigen und standhaft zu bleiben. Häufig sei es auch ein Abwägen. Akzeptiere ich den Kompromiss, obwohl ich weiß, dass er nicht die perfekte Lösung ist? Oder bleibe ich hart und riskiere, dass auch der kleine Fortschritt verlorengeht? „Das finde ich schwierig. Dass es nicht immer so geht, wie ich es basteln würde, wenn ich Königin wäre.“ Sie lacht.

Weniger Ermessen, mehr Selbstbestimmung

Ihre Lebenserfahrung sei oft eine Lernerfahrung gewesen, sagt Stephanie Aeffner. Deshalb glaubt sie, dass auch das Scheitern seinen Sinn hat. „Ich schaue mit ganz viel Zuversicht und Dankbarkeit auf das Leben.“ Die 46-Jähige ist überzeugt, dass Menschen wesentliche Dinge meist schon richtig für sich selbst entscheiden. In den Sozialsystemen fehlt ihr das Zutrauen gegenüber Leistungsberechtigten und die Freiheit für eigene Entscheidungen. „Ich glaube, viele haben da schon sehr frustrierende Erfahrungen gemacht.“ Schuld daran sind aus ihrer Sicht nicht die Gesetze selbst, sondern ihre Auslegung. „An manchen Stellen braucht es schlaue, klarstellende Formulierungen. Oder auch Fristen.“ Die Schärfung dieser Normen werde eine der Aufgaben der kommenden Legislaturperiode sein.

Etwa die Hälfte des Jahres verbringt Stephanie Aeffner mittlerweile in Berlin. Ganz dorthin ziehen möchte sie aber nicht. „Ich finde es wichtig, dass Politikerinnen und Politiker auch das Leben in ihrem Wahlkreis mitbekommen und dort präsent sind.“ Daran werden sie auf Dauer auch die Bedingungen bei der Deutschen Bahn nicht hindern.

Autor: Nikola Hahn

„Wir verpflichten in dieser Wahlperiode private Anbieter von Gütern und Dienstleistungen, innerhalb einer angemessenen Übergangsfrist zum Abbau von Barrieren oder, sofern dies nicht möglich oder zumutbar ist, zum Ergreifen angemessener Vorkehrungen.“

(Koalitionsvertrag 2021–2025 zwischen SPD, BÜNDNIS 90/DIE GRÜNEN und FDP)